über einen verschwundenen.
aus dem psychologie heute-blog 'der psychologische blick'.
Mein alter Schulkamerad V. ist seit fünf Jahren unauffindbar. Kann ich mir kaum vorstellen, in dieser digital age. So analog kann man doch gar nicht sein, dass man einfach so verschwindet, denke ich. Oder? Gibt es die noch, die letzte analoge Bastion? Wo ist das und wer scheut die digitale Bühne in social media? Und vor allem: Wo ist V.?
Ich stehe an einem einsamen Bahngleis im schleswig-holsteinischen Nowhereland und warte auf meinen Zug nach Berlin. Der einzige Mitwartende ist ein junger Mann mit Fahrrad, der mir etwas zu tief in die Augen schaut, als dass ich das so einfach ignorieren kann. Und tatsächlich, ich erinnere mich, es ist Robert, ein alter Schulkamerad, mit dem ich vor elf Jahren mein Abitur machte. So ein Zufall! Während der anschließenden Zugfahrt reden wir über die gemeinsame Zeit und die Jahre danach und kommen auf unseren Schulkameraden V. zu sprechen, der, so stellt sich heraus, seit fünf Jahren unauffindbar ist.
Kann ich mir kaum vorstellen, in dieser digital age. So analog kann man gar nicht sein, dass man einfach so verschwindet, denke ich. Google, Facebook, Twitter und Co helfen nicht weiter, wäre ja auch zu einfach gewesen. Fast vergessene Schulfreunde tauchen dort auf, doch bei allen verläuft sich V.’s Spur im Oktober 2011. Alte Telefonnummern und Mailadressen führen ins Leere, auch die Telefonauskunft weiß nicht weiter. Eine Freundin fährt bei seiner alten Adresse vorbei, aber seine Familie ist vor Jahren aus der Stadt gezogen.
Mit Florian, einem Freund, sitze ich in Lübecks alter Mühle und frage nach Rat: Kann man in heutiger Zeit wirklich verschwinden, in eine analoge Welt abtauchen? Oder ist V. unauffindbar, weil es ihn nicht mehr gibt, weder digital noch analog? Die Sorge wächst, ich fange an, Todesanzeigen zu screenen. Florian erzählt von einem ehemaligen Kommilitonen, ein schillernder Typ mit Cabrio, der plötzlich nicht mehr im Seminar saß, dafür im Gefängnis, wegen Drogenhandels. Auch er ein Verschwundener, denn im Gefängnis gibt es kein social media, vielleicht eine letzte analoge Bastion?
Nun will ich V. wirklich finden, schon um mein ungutes Gefühl zu beruhigen. Ich frage meinen alten Tango-Tanzpartner, der bei der Bundespolizei arbeitet. Ist V. im Gefängnis oder gewaltsam gestorben, dann müsste er davon wissen. Er weiß von nichts. Eine Andeutung, die Hoffnung macht. Ein befreundeter Journalist empfiehlt in klassischer Recherche-Manier das Bürgeramt. Melderegisteranfragen gehen dort nur per Post oder Fax (hello digital age!), manchmal reicht viel Charme. Es dauert trotzdem ewig, denn für jeden neuen Wohnort ist ein anderes Bürgeramt zuständig.
Irgendwann lande ich in der sächsischen Pampa. Eine vergnügte Sachbearbeiterin teilt mir per Mail mit, sie dürfe nichts sagen, das ginge nur per Post, sie sei aber guten Mutes. Und sie gratuliert herzlich zum neuen Job und den beiden (nicht so neuen) Kindern, sie lese jetzt nämlich meinen Blog. Was für ein Kontrast zwischen mir, der Suchenden, die regelmäßig fast schamfrei über Persönliches schreibt und V., seit fünf Jahren unauffindbar. Doch dann kommt der Brief: V. lebt, in einem kleinen Ort bei Chemnitz, wie sich herausstellen wird, gesund und munter.
Eine große Erleichterung! Es gibt sie also noch, die nur scheinbar Verschwundenen, die Analogen. Ich lese bei Tracii Ryan und Sophia Xenos, es seien vor allem die Gewissenhaften und Schüchternen, die auf die digitale Bühne in social media verzichten. Aber David Hughes und Kollegen relativieren, diese Persönlichkeitsunterschiede werden kleiner, weil hierzulande mittlerweile quasi alle online seien. Zumindest bleiben die Analogen verschont von social bots und psychological targeting, vielleicht sind sie die Einzigen, die noch unmanipuliert durchs Leben gehen. Aber unauffindbar, das sind sie nicht, wenn man sie sucht.
Zum Weiterlesen
- Wolfie Christl und Sarah Spiekermann (2016). Networks of control: A Report on Corporate Surveillance, Digital Tracking, Big Data & Privacy. Wien: facultas.
- David J. Hughes, Moss Rowe, Mark Batey und Andrew Lee (2012). A tale of two sites: Twitter vs. Facebook and the personality predictors of social media usage. Computers in Human Behavior, Vol. 28, S. 561-569.
- Tracii Ryan und Sophia Xenos (2011). Who uses Facebook? An investigation into the relationship between the Big Five, shyness, narcissism, loneliness, and Facebook usage. Computers in Human Behavior, Vol. 27, S. 1658–1664.
Dieser Text wurde zuerst im Psychologie Heute-Blog veröffentlicht. Er ist Teil der Reihe “Der psychologische Blick”, in der zwischen Juli 2014 und Dezember 2017 vier bis sechs Kolumnist:innen - und ich war eine davon - über aktuelle Themen aus Alltag, Gesellschaft und Wissenschaft schrieben.